Sprachliche Besonderheiten von Menschen im Autistischen Spektrum


Letzte Woche hatte ich Geburtstag.

Mein Mann und mein Sohn, der am gleichen Tag Geburtstag hat wie ich, gratulierten mir kurz nach dem Aufwachen zu diesem ganz normalen und eben doch speziellen Tag im Jahr.

Anders unsere Tochter, die ich an dieser Stelle auf ihren Wunsch hin Lovis nenne: Als ich im Bad auf sie traf, wünschte sie mir knapp einen guten Morgen. Da sie sich Daten schlecht merken kann und auch sonst oft nicht weiss, welchen Wochentag wir gerade haben, dachte ich schon, sie hätte das Ereignis einfach vergessen. Doch weitere fünf Minuten später fragte sie mich: “Mama, was ist an einem Geburtstag eigentlich anders als an jedem anderen Tag?”

 

Was “nicht normal” ist, wird in der Regel abgelehnt

Abgesehen davon, dass mir die Beantwortung dieser Frage schwerer fiel als erwartet, wurde mir klar, dass sie bewusst auf eine Gratulation verzichtete – auch später, als wir alle am Frühstückstisch sassen. Mein Mann fand dies alles andere als schön. Und ich hätte wohl gleich irritiert oder verärgert reagiert wie er, hätte ich von lieben Freunden (1) vor kurzem nicht dieses Buch erhalten…

“Anders, nicht falsch” heisst es. Maria Zimmermann hat es geschrieben und wunderbar illustriert (2). Maria fand im September 2020 heraus, dass sie “im Autistischen Spektrum” ist. Im Buch beschreibt sie, wie “die Entdeckung” ihr Leben veränderte, indem sie so manches plötzlich einordnen konnte, was für sie schwierig war (und ist) und bei anderen oft auf Ablehnung und Unverständnis stiess (und stösst). Sprachlich und gestalterisch knapp und klar stellt sie dar, was bei ihr anders ist als das, was andere als “normal” betrachten.

Meine Vorahnung wurde beim Lesen der bunt gestalteten Seiten bestätigt: Ich hatte ein Aha-Erlebnis nach dem anderen in Bezug auf so manche ungewöhnliche Verhaltensweise von Lovis.

 

Eingebüxte Kühe und unerwartete Redeschwälle

Ich erkannte im Buch etwa ihre stundenlangen Aufenthalte allein in ihrem Zimmer wieder. Ihre scheinbare Gefühlslosigkeit in Situationen, die andere sehr aufwühlen – die sie jedoch in erstaunlich einfühlsamer Manier logisch erklären kann. Ihre Ablehnung von Berührungen oder dem Schütteln fremder Hände zur Begrüssung. Ihre Unfähigkeit, aus dem Kopf heraus etwas zu zeichnen, während sie gleichzeitig zur Künstlerin wird, wenn sie einen konkreten Anhaltspunkt oder eine Vorlage hat.

Auch Lovis’ Sprachgewohnheiten erschienen mir plötzlich plausibel: Ihre direkte und knappe Art, mit der sie uns immer wieder vor den Kopf stösst. Ihre grundsätzlich sparsame Kommunikation, die manchmal jedoch unerwartet zu einem nicht zu stoppenden Redeschwall anwachsen kann. Ihre komplette Abneigung gegen jegliche Form von Smalltalk und dem Austausch von Belanglosigkeiten.

Oder ihre Eigenart, neue Wörter zu erfinden. Es bringt mich heute noch zum Lachen, wie sie bei einem Spaziergang vor Jahren eine Kuh auf dem Feld sah und sagte, diese müsse durchs Loch im Zaun “eingebüxt” sein.

 

Sprachliche Besonderheiten von Menschen im Autistischen Spektrum

Maria beschreibt im Buch ihre Eigenheiten und damit mögliche Merkmale von Menschen im Autistischen Spektrum in folgenden acht Bereichen: Enthusiasmen, Kognitive Fähigkeiten, Sensorische Sensibilität, Sprache, Gefühle, Soziales, Motorik und Umgang.

Einige dieser Besonderheiten – vor allem jene im Bereich der Sprache – waren mir vorher weder bewusst noch bekannt. Da ich überzeugt bin, dass es viele Menschen und insbesondere viele Kinder gibt, die unwissentlich autistische Züge aufweisen, ist es mir ein Anliegen, die sprachlichen Merkmale an dieser Stelle aufzulisten. Vielleicht erkennst du darin dich selbst oder dein Kind wieder:


1. Verbales (+) versus Non-verbales (-)

Menschen im Autistischen Spektrum können einen breiten Wortschatz und eine hohe begriffliche Präzision aufweisen. Gleichzeitig können sie umso mehr Mühe bekunden mit allem, was zwischen den Zeilen stattfindet bzw. nicht wörtlich gemeint ist: Tonalität, doppelte Bedeutungen, Sarkasmus und Ironie, Flirtverhalten sowie zwischenmenschliche Kommunikation im Allgemeinen.

2. Informationsaustausch als einziger Sinn für Gespräche
Für Maria ist Kommunikation da, um Informationen auszutauschen. Das heisst: Smalltalk ist anstrengend und unnötig. Sie unterbricht oft sowohl den Blickkontakt, um zusätzliche Reize auszublenden, als auch das Gespräch selbst, um Zeit zur Informationsverarbeitung und zur Formulierung einer adäquaten Antwort zu haben.

3. Aufrichtigkeit statt erzwungene Höflichkeit
Menschen im Autistischen Spektrum meinen das, was sie sagen. Sie sind offen und direkt. In dieser Ehrlichkeit verletzen sie manchmal soziale Gepflogenheiten, Hierarchien – und Menschen, die mehr Taktgefühl erwarten. Oder die zum Beispiel erwarten, dass sie ihnen zum Geburtstag gratulieren …

4. Neue (und/oder Freude an schönen) Wortkreationen
Neu gebildete Wörter können einen als limitiert empfundenen Wortschatz erweitern (etwa die “eingebüxte” Kuh oder Wortkreationen wie “sonntagen”). Dazu kommt eine Freude an ungewöhnlichen Worten (im Buch bringt Maria dafür Beispiele wie “eklektisch”, “entgegengegangene”, “interinstitutionell” oder “Möbelöl”).

5. Prosodie
Vereinfacht gesagt umfasst Prosodie jene Aspekte der Sprache, die mit dem Laut zu tun haben: Tonalität, Tonlage, Intonation, Sprechmelodie und -rhythmus. Bei Menschen im Autistischen Spektrum stimmen Klang und Lautstärke der Stimme oft nicht mit der inhaltlichen Botschaft überein. Oder ihre Sprache wird monoton und schwerfällig, wenn sie stark nachdenken müssen.

6. Echolalie
Unter diesem wohlklingenden Begriff ist einerseits das Wiederholen von Wörtern oder Sätzen zu verstehen – zum Beispiel, wenn die Frage “Wollen wir rausgehen?” mit “Wollen wir rausgehen?” bejaht wird. Dieses Beispiel gibt Maria in ihrem Buch. Menschen im Autistischen Spektrum wiederholen manchmal auch auswendig gelernte Sätze, um in Gesprächen zu kaschieren, dass sie nicht genau wissen, worüber sie sprechen sollen.

Eine weitere Form von Echolalie ist das Nachahmen von Menschen – nicht im Sinn von Nachäffen, sondern indem ihre als angenehm empfundene Sprechweise imitiert wird.

 

Herrlich unkonventionell

Nach oben erwähntem Frühstück an meinem Geburtstag kam Lovis wieder einmal auf einen Spaziergang mit mir mit. Ich nutzte den wunderbaren Weg über frisch gefallenen Schnee und unter Arvenbäumen dazu, um ihr erstmals eingehender von Marias Buch zu erzählen – und davon, dass ich manche ihrer Eigenschaften darin wiedererkannt habe.

Auch Lovis erkannte sich in den von mir genannten Beispielen wieder. Sie hatte keine Sekunde lang das Gefühl, damit in eine Schublade gesteckt zu werden. Im Gegenteil: Sie konnte bestens nachvollziehen, dass die Kenntnis dieser Eigenheiten ihr dabei helfen kann, einige ihrer Verhaltensweisen einzuordnen. Genau, wie es uns Eltern und anderen dabei hilft, sie besser zu verstehen. 

Viele im Buch beschriebenen Merkmale treffen auf Lovis übrigens nicht zu. Was “normal” ist: Maria selbst ist es wichtig zu betonen, dass die Bandbreite des Autistischen Spektrums ausgesprochen gross ist und – wie das Weltall – viele Dimensionen und keine Begrenzung aufweist.

Lovis indes beendete unser Gespräch mit der Bemerkung: “Mami, ich kann mir nicht merken, wie dieses ‘Spektrum’ genau heisst. Wenn ich einmal mehr dazu wissen will, dann komme ich einfach zu dir, in Ordnung?” Damit war die Sache für sie erledigt. Herrlich unkompliziert. Und herrlich unkonventionell!



(1) Die lieben Freunde heissen Simone und Michael und organisieren im Rahmen des “Familien Netzwerks Engadin” Vorträge und Workshops für Eltern und pädagogisch Interessierte. Mein erstes Impulsreferat beim FNE durfte ich im September 2023 zum “Leben und Kommunizieren mit Kindern der Neuen Zeit” halten. Simone und Michael hatten mich aufgrund meines Blogs Grenzensprengerkind dafür angefragt.

Nun habe ich das Vergnügen, am 15. April 2025 in einem Workshop zu vermitteln, was das Human Design zum besseren Verständnis von Kindern auszusagen vermag. Ich arbeite dafür inhaltlich mit der wundervollen Human-Design-Expertin Josefine Pläschke zusammen. Hier meldest du dich bei Interesse an: www.fne.gr

(2) Zimmermann, Maria (2024): Anders, nicht falsch. Kommode Verlag, Zürich (8. Auflage)

{"email":"Email address invalid","url":"Website address invalid","required":"Required field missing"}
>