Ich war sehr überrascht. Nur ein Tag, nachdem ich eine Deutsch-Unterrichtsstunde mit unseren Kindern wegen mangelndem Interesse frühzeitig abgebrochen hatte, kam unser Sohn Ben zu mir und sagte entschlossen: “Mama, jetzt bin ich bereit, die Wortarten zu lernen. Ich will ja mal nicht dümmer sein als meine Kinder.”
Das war ein abrupter Meinungsumschwung. Ausserdem nahm ich interessiert zur Kenntnis, dass Ben offenbar davon ausgeht, später selbst einmal Kinder zu haben. Aha!
Seither sitzen wir einmal in der Woche zusammen. Ich lege ihm alles dar, was ich zur deutschen Grammatik für wissenswert halte. Manchmal gähnt er während dieser Stunde. Doch er bleibt dran und hat sich gemerkt, was ein Personalpronomen, was eine Präposition und was eine Konjunktion ist. Den Unterschied zwischen einem Haupt- und einem Nebensatz kennt er so gut, dass wir uns bei Gelegenheit die Kommaregeln vornehmen werden.
Grundschulstoff mit fünfzehn Jahren
Ben wird im März fünfzehn Jahre alt. Beim Wissen um Satzbau und Satzstruktur in Deutsch handelt es sich um Grundschulstoff. Wie kommt’s, dass er dies erst heute lernt?
Unsere Antwort darauf ist: Weil er erst jetzt daran interessiert ist. Und weil er sich diesen Stoff nach unserem Dafürhalten daher auch erst jetzt wird merken können. Wir erleben es in der Praxis so, wie Prof. Gerald Hüther es sagt: Ein Kind lernt nur, wenn es inspiriert, motiviert und begeistert ist.
Dazu kommt, dass wir uns immer noch auf Reisen befinden. Das gibt uns überhaupt die Möglichkeit, unsere Kinder ausserhalb des Schulsystems in dieser Flexibilität Wissen aufnehmen zu lassen: In den Fächern, in denen sie etwas lernen wollen. Und vor allem dann, wenn sie bereit dafür sind.
Es geht erst, wenn das Kind bereit ist
Dieses Vorgehen ist nichts anderes als die Konsequenz aus einer Erkenntnis, die wir bei beiden Kindern schon sehr früh hatten: Dass sie Dinge erst dann (gut) machen, wenn die Zeit dafür gekommen ist.
War die Zeit gekommen, dann ging von einem Tag auf den anderen plötzlich das, wofür wir uns vorher vergeblich wochenlang abgerackert hatten. Ben etwa setzte sich dann auf sein Laufrad, als wir unsere wiederholten Versuche, ihn an diesen Punkt zu bringen, entnervt aufgegeben hatten. Ebenso begann er erst dann gerne Fussball zu spielen, als wir uns damit abgefunden hatten, dass er einen Fussball zeitlebens in die Hand nehmen und mit ihm aufs Tor zurennen würde.
Noch eindrücklicher war es beim Skifahren: Ich erinnere mich heute noch an den krisenhaften Moment, als mein Mann den kleinen Ben in Livigno auf die Ski stellte. Ben begann zu weinen, während mein Mann aus lauter Frust am liebsten geschrien hätte. Jegliche Versuche, ihm das Skifahren schmackhaft zu machen, scheiterten – für meinen skibegeisterten Mann ein herbe Enttäuschung.
Jahre später, als wir nur für Mia ein Skiabo gekauft hatten, bat ihn Ben plötzlich, ihm das Skifahren beizubringen. Von diesem Moment an zeigte Ben Leidenschaft und grosses Talent für den Sport. Heute trainiert er im Winter am liebsten jeden Tag und ist unzufrieden, wenn er als Zweitplatzierter im Rennen zu viel Zeitabstand auf den Gewinner hat. Der Knoten ist eindeutig geplatzt.
“Schulfach” Astrologie
So ist es uns ausnahmslos mit allen Tätigkeiten und Entwicklungsschritten unserer Kinder gegangen: Nichts geht – bis die Zeit gekommen ist. Wenn sie kommt, passiert alles von null auf hundert. Und wenn sie nie kommt, dann ist es lediglich ein Zeichen dafür, dass es gewisse Lernfelder halt nicht braucht. Dann haben wir den Mut zu sehr, sehr grossen Lücken.
Mittlerweile lassen wir uns bedingungslos von den Interessen der Kinder leiten. Ben holt nebst deutscher Grammatik derzeit auch in Mathematik im Eiltempo den Schulstoff von neun Jahren Regelschule auf und erzielt in Selbsttests Höchstnoten. Englisch hat er sich ohne unser Zutun bereits selbst beigebracht.
Und Mia? Mia ist fast dreizehn Jahre alt und hat keine Lust auf Deutsch oder Mathe. Doch wir wissen, dass es bei ihr mit allem so gehen kann wie beim Lesen: Lange hatte sie damit so grosse Mühe, dass wir bei ihr von einer Legasthenie oder mindestens einer Leseschwäche ausgingen. Dann kam das richtige Buch, die “Warrior Cats”. Ab diesem Moment verschlang sie Bücher in einem Tempo, dem wir mit unserem Geldbeutel kaum hinterher kamen.
Letzten Sommer hatte ich ihr einzelne Punkte in ihrem Horoskop erläutert, nachdem ich mich eingehend mit meinem eigenen beschäftigt hatte. Kürzlich kam sie zu mir und bat mich, mehr davon zu erfahren. Daraus ist unterdessen eine wöchentliche “Schulstunde” in Astrologie entstanden.
Für den Rest vertrauen wir darauf, dass sie sich alles, was sie jemals für ein gelingendes Leben braucht, aneignen wird – wenn der Moment dafür gekommen ist.
Vertrauen setzt Herzöffnung, Hingabe und Verständnis voraus
Dieses Vertrauen, dass alles immer zum richtigen Zeitpunkt geschieht, wird wiederholt auf die Probe gestellt und erfordert Mut und Geduld. Doch jedes Mal, wenn ich ins Wanken gerate, kommt das Vertrauen noch stärker zurück.
Ich setze dieses mit einer Herzöffnung und mit der Hingabe an den Fluss des Lebens gleich. Es geht mit einem tiefen Verständnis für die nötigen Wachstumsschritte in jeder Entwicklung einher – und dem Wissen, dass wir diese genauso wenig erzwingen können wie das Interesse an einem Thema oder das Laufenlernen beim Kleinkind. Sie kommen – wie alles – einfach zur rechten Zeit.
Am Ende zieht sich die Annahme dessen, was ist und geschehen darf, durch alle Bereiche des Daseins und gibt dort zuversichtliche Gelassenheit: Im Zusammenleben mit Kindern, im beruflichen Kontext oder in der Liebe. Um sie dreht sich letztlich sowieso alles. Haben wir unter allem Ballast die Liebe wieder freigeschaufelt, gibt es nichts mehr zu erreichen.
Ob Fussball, Skifahren, Astrologie oder nichts von alledem: Alles ist dann gut.
Im Gespräch mit Autorin Subina Giuletti erzähle ich mehr aus unserem Familienleben:
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